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Gedenken an eine starke russlanddeutsche Frau.

Nun ist sie gestorben, bevor sie ihre Tochter noch einmal sehen konnte. Vergeblich hatte sie und hatten wir alle uns um Olgas Ausreise aus dem fernen Kasachstan bemüht.

Ob Olga jemals ausreisen darf, ist ungewiss. Denn ihr Stiefvater ist Russe und kann sie nicht nachkommen lassen. Vor 28 Jahren war Elda mit ihm als Russlanddeutsche in unseren Ort gezogen. Mehrere Aussiedlerfamilien kamen damals aus Russland, aus Kasachstan und aus Sibirien. Die meisten wohnten in einem ehemaligen Ferienzentrum, in kleinen Häuschen. Elda und Nicolai kamen etwas später dazu. Darum waren alle Wohnungen bereits belegt und sie mussten in einem alten Gasthof unterkommen.

Ich sehe diese neuen Einwohner manchmal noch vor mir. Die ernsten Männer, oft mit fremdartigen Schildmützen, die Frauen mit wollenen Kopftüchern über dem Haar. Viele von ihnen hatten goldene Zähne und fast alle sprachen noch in einem schwäbischen Deutsch. Nur ihre Kinder konnten anfangs überhaupt noch nicht deutsch sprechen. Denn wo hätten sie es lernen sollen, in der streng kommunistischen Zeit? In den Schulen wurden die neuen Mitschüler darum „ die Russen“ genannt. Diese Bezeichnung muss den zugewanderten Menschen oft  weh getan haben.

Denn ihre Vorfahren stammten ja fast alle aus Deutschland, aus Österreich oder aus dem Elsaß. Sie waren nur im 18. Jahrhundert als junge Handwerker und Bauern in die freien Gebiete des mächtigen Zarenreiches geholt worden. Katharina die Große hatte sie gerufen und ihnen in einem Brief vom 22. Juli 1763 die freie Fahrt zum Wohnort auf Staatskosten, die Zuteilung von Land, freie Steuerjahre, eine weitgehende Selbstverwaltung und die Befreiung vom Militärdienst versprochen, sowie die Freiheit, ihre eigene Religion auszuüben.

Auch wenn die Wirklichkeit dann etwas anders aussah und die meisten deutschen Einwanderer nur an das Ufer der Wolga geschickt wurden, wo sie sich an das raue Klima und an eine fehlende Infrastruktur und andere Probleme gewöhnen mussten, so folgten doch bis 1774 bereits 30 000 Siedler dem Ruf. Rund 3 000 Menschen sind auf diesem beschwerlichen Weg gestorben..

Die neuen Dörfer wurden durch Musterpläne für Kolonien von russischen Staatsbeamten bestimmt. Katholiken und Protestanten in eigenen Dörfern streng getrennt. Und, damit die religiösen Neusiedler nicht die russische Bevölkerung mit ihrer Religion beeinflussen sollten, durfte an ihren Schulen nur in deutscher Sprache unterrichtet werden.

Als in Russland 1861 endlich die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, konnten sich die deutschen Gebiete bereits bedeutend besser darstellen, als die Dörfer in denen die russischen Bauern noch Analphabeten waren. Mit der Befreiung des russischen Bauernstandes aber, wurde auch die Behördensprache russisch und in den deutschen Schulen sollte auf russisch unterrichtet werden. Was die Kolonisten jedoch ablehnten. Trotzdem behielten ihre Dörfer und Landkreise noch einen hohen Grad an Selbstverwaltung.

Dieses sensible Zusammenleben von verschiedenen Völkern und Volksgruppen, in einem endlos weiten Zarenreich, endete zu Beginn des 1. Weltkriegs abrupt. Bereits 1914 wurden die ersten deutschen Familien und tausende Juden, wegen des „Verdachts der Spionage für den deutschen Feind“ aus dem grenznahen Polen und Wolhynien ausgesiedelt. Die meisten Familien kamen an die Wolga oder nach Sibirien.

Als dann die Bolschewiken an die Macht gelangten, gab es noch mehr Probleme mit den deutschen Siedlern, die durch ihre geographische Lage, ihre schlechten Russischkenntnisse sowie einer verhältnismäßig hohen Bildung wenig Sympathien für die proletarischen Ideen der neuen Machthaber hatten.

Es kam zu Spannungen, Unterdrückung, geheimpolizeilicher Überwachung und Festnahmen vieler wiederspenstiger Deutschrussen, deren landwirtschaftliche Produkte jedoch für ganz Russland lebenswichtig waren! Denn in den Jahren 1921 bis 22 hatte es durch die lange, blutige Revolution und die Verstaatlichung der Großindustrie und der mittleren Betriebe, vor allem im Süden des neuen Staates eine entsetzliche Hungersnot mit Millionen von Menschenopfern gegeben. Aus diesem Grund, gestattete ausgerechnet der Diktator Stalin, eine besondere „Wolgadeutsche freie Kolonie“ zu gründen, die den Staat mit Nahrung, Kleidung und wichtigen landwirtschaftlichen Maschinen versorgen sollte. Das Verhältnis zum Staat blieb jedoch weiterhin gespannt.

Auch der Nichtangriffspakt zwischen der UDSSR und Deutschland, vom 23. August 1939, führte zu keiner Verbesserung, sondern brachte die Russlanddeutschen nur in große innere Konflikte. Blieben sie in ihren jetzigen Heimatorten, gerieten sie unter die Sowjetherrschaft mit Enteignungen, Verbannungen, Glaubensverfolgungen. Entschieden sie sich für die Auswanderung in das Deutsche Reich, so kamen sie als Mittellose und Entwurzelte dort an. Das geringere Übel schien vielen wohl die sogenannte „Vertragsumsiedlung“ ins Deutsche Reich zu sein.

Aber nicht alle Russlanddeutschen machten von der Möglichkeit ins Deutsche Reich zu ziehen Gebrauch. Viele blieben lieber in ihren Dörfern. Doch Stalins krankhafte Angst vor Spionage und Verrat, die sich nach dem Angriff Hitler-Deutschlands im Juni 1941 noch verstärkte, veranlasste das Präsidium des Obersten Sowjets am 28. August 1941 zum raschen Handeln.

Bereits davor hatte man schon 53 000 Krimdeutsche aus ihren Dörfern ausgesiedelt. Am 26. August 1941 erfolgte dann auch die Umsiedlung der Deutschen aus der Wolgarepublik und aus den Gebieten um Stalingrad. Diese sogenannte „deutsche Operation“ verlief unter Ausschluss von Presse und Öffentlichkeit und in unmenschlicher Art und Weise. Die Nachkommen der einst von Katharina der Großen ins Land geholten Siedler wurden unter Schimpf und Schande enteignet, entrechtet, gedemütigt und oft schon mutwillig getötet.

Und, da die Versorgung mit Lebensmitteln nur für die arbeitende Stadtbevölkerung gesichert war und man auf dem Lande von eigenen Nutzgärten und Privatvieh lebte, kam bei den Vertriebenen in Sibirien noch der große Hunger dazu. Denn die Zwangsumsiedler hatten jetzt keine eigene Landwirschaft mehr und konnten sich nicht mehr ernähren. So kam es, dass in Sibirien. alleine durch die Nahrungsmittelknappheit, vor allem bei Kindern ein großes Sterben einsetzte. Oft versuchten die Eltern noch bei den Kolchosbauern ihre letzten warmen Decken und Kissen und was sie sonst noch besaßen, gegen Lebensmittel einzutauschen. Die überlebenden Kinder mussten oft ohne Eltern aufwachsen, weil diese den ganzen Tag über in den Arbeitslagern waren.

Erst nach dem Tod des Diktators, in den Jahren 1956 bis 1985, wurden etwas menschlichere Verhältnisse in begrenztem Masse möglich. Und während Chruschtschows „Wiederherstellung der sozialistischen Gesetztlichkeit“ befanden sich unter den Rehabilitierten der Stalinzeit auch Zehntausende von, meist getöteten, Russlanddeutschen.

Diese Rehabilitierung hieß jedoch nicht, dass die Menschen in ihre angestammten Besitztümer an der Wolga oder ans Schwarze Meer zurück kehren durften! Viele zogen daher nach Kasachstan oder blieben in Sibirien. Durch die antiwestliche Propaganda in der damaligenn UDSSR, waren die Sowjetrussen außerdem so gegen Deutschland aufgebracht, dass sie auch die Russlanddeutschen nicht als gleichberechtigte Bürger ansahen.

Erst „Die Liberalistierng nach dem Machtantritt von Michail Gorbatschow schuf gewisse Voraussetzungen für eine unvoreingenommene Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Minderheit und ihre vollständige Rehabilitation.“ Zitat aus der Broschüre Volk auf dem Weg.

Somit kehre ich wieder zu meinem Anfang zurück und gedenke der verstorbenen Elda, die als Kind mit ihrer Familie von der Schwarzen Meer Region bis nach Sibirien vertrieben wurde. Die, wegen der Zwangsarbeit der Eltern, bei ihrer Großmutter aufwuchs und bereits mit 14 Jahren in einem Zementwerk arbeiten musste. Die mit 16 Jahren ihr erste Tochter, Olga bekam und wenige Jahre später Irina. Kurz darauf wurde ihr Ehemann ermordet.

 

1989 kam sie mit ihrem zweiten Ehemann, dem treuen Nicolai, nach Deutschland. Hier fing ein neues Leben für sie an, das leider durch eine bösartige Krankheit bedrückt wurde. Doch ihre Fröhlichkeit, die sie sicher von ihren Ahnen vom Schwarzen Meer geerbt hatte, ließ sie nicht untergehen! Mehrere Chemotherapien konnten sie immer wieder für einige Jahre retten. Und ihr positives Gemüt verschönte ihr und ihrem Mann das tägliche Leben. Vor allem freute sie sich an ihrem Enkelkind Oxana, das ihr zwei niedliche Urenkel und einen guten Schwieger-Enkelsohn bescherte, sowie an der Tochter Irina, die mit ihrer Familie in Stuttgart lebt und sie gerne besucht hat. Vor allem aber schöpfte sie Kraft aus ihrer 47 Jahre währenden glücklichen Ehe mit ihrem zweiten Ehemann Nicolai.

Elda konnte ebenso gut russisch kochen wie auch Pilze oder Gemüse nach Rezepten vom Schwarzen Meer zubereiten. Sie konnte mit ihrem Mann gemeinsam aus gebrauchten Möbeln, die sie restaurierten, ein gemütliches Heim zaubern und sie hatte immer ein großes Herz für alle Freunde. Stets war sie besorgt, dass man sich erkälten könnte: „Ziech dich nicht so näckicht an!“ schimpfte sie, wenn man im Winter keinen Schal um den Hals hatte. Und sie vergaß sofort alle Sorgen und Schmerzen, wenn sie von ihren Urenkeln erzählte.

Selbst für ihren nahen Tod wollte sie ihre Familie entlasten, indem sie bereits vor vielen Monaten einen schwarzen Anzug für ihren Mann besorgte. (Der schwarze Anzug eines evangelischen Pastors ist es geworden….) Und ihre Tochter, Olga, die sie so gerne noch einmal in die Arme geschlossen hätte, sollte nach ihrem Tod für den Vater sorgen.

Leider ist diesem Wunsch der Tod zuvor gekommen.

Vergessen werden wir Elda niemals, diese mutige Frau mit dem Herzen einer russischen мать und der Sprache ihrer schwäbischen Vorfahren!

Möge sie in Gottes Frieden ruhen.

russisches Holzei mit Ikone

Ikone

J. A.

Unter Verwendung einer Publikation des Bundesministeriums des Inneren und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.