Wenn man durch unsere kleine Ortschaft geht, trifft man zuweilen auf einige auffallende Erscheinungen…
Da schiebt vielleicht eine alte Frau im schwarzen Mantel und mit dichtem grauen Haarpelz um das faltige Gesicht, die dicken Strümpfe in klobigen Schuhen, den Wagen an mir vorüber. Ein brauner Dackel guckt mit listigen Augen aus dem Korb ihres klapprigen Rollators. Das entflohene Tier sei ihr vor Reue demütig wieder in den Korb gehüpft, berichtet das Frauchen.
Die Beiden leben nun schon seit mehreren Jahren in ihrem Wohnwagen hinter der gammeligen Dorfkneipe. Das sei zumindest ein billiger Stellplatz, meint die alte Dame. Einen besseren könne sie sich bei ihrer winzigen Rente nicht leisten. Und mehrmals im Jahr würde sie sowieso mit ihrem Sohn auf Jahrmärkte fahren. Dort ist das Leben! Hier hätten sie doch nur ihr Winterquartier. Aber der Hund sei ein echter Schaustellerdackel: Der würde immer ausreißen, wenn es ihm an einem Ort zu langweilig wird.
Ob sie auch manchmal bedauere, keine feste Wohnung zu haben? „Nein!“ lacht sie da laut auf. Anders möchte sie doch gar nicht leben! Sie würde sich in einer normalen Wohnung nur eingeengt fühlen. Außerdem hätte sie ja einen anderen Beruf wählen können, als sie noch jung war. Aber sie, wie auch ihr verstorbener Mann, brauchten schon damals die Freiheit des Schaustellerlebens!
Als es jetzt so elend kalt war, überlegte ich, ob ich ihr meinen alten warmen Lammfellmantel hinüberbringen sollte? Aber dann scheute ich mich, weil ich dachte, dass es sie kränken könnte. Diese Leute sind sehr stolz. Sie fühlen sich nicht arm.
Sonst zottelt auch manchmal ein bunt angezogenes älteres Paar hinter einem zerbeulten Kinderwagen durch den Ort. Der großgewachsene Mann, mit weißem Haar und dunklem Teint, trägt einen auffallenden, seitlich herunterhängenden Schnurrbart. Seine zarte, kleine Frau verdeckt ihr Haar mit ihrem dicken Kopftuch. Es sind armenische Kurden, Asylbewerber. Sie wohnen in einem hölzernen Haus, das die Gemeinde ihnen zur Verfügung gestellt hat. Manchmal unterhalten wir uns auf der Straße. Sie zeigen mir dann, dass sie kein kleines Kind im Wagen haben, sondern nur ihren Einkauf transportieren. Damit die Frau nicht so schwer tragen muss.
Vor bestimmten Feiertagen läuten die Beiden an unserer Haustür. Die Frau wendet sich dabei ab, weil sie Angst vor dem großen Hund hat, der Mann tritt nur einen Schritt zurück. Nach einer Kehlkopfoperation kann er nicht mehr sprechen. Darum beginnt er zu deuten, zu gurgeln und zu zischen und weist dabei auf seine Frau und sich.
Mit seinen Gebärden will er mir sagen, dass bald ein Feiertag ist. Und dass ich darum die Gelegenheit erhalte, nein ich muss verbessern, dass sie mir die Gelegenheit geben, noch heute etwas Gutes zu tun! Ich darf den Beiden milde Gaben reichen. Wie wunderbar das Gleichgewicht der Achtung auf diese Weise erhalten bleibt!
Die dritte auffallende Gestalt sitzt – oder saß bis vor Kurzem – in dem hölzernen Bushaltestellenhäuschen gegenüber. Ein abgerissener Mensch mit rotem Gesicht und fettigen Haaren, in einen windigen Anzug gekleidet, mit abgeschabter Jacke – ohne Knöpfe. Aber aus beiden Seitentaschen ragen rechts und links zwei hohe Flaschen heraus. Immer dünner wurde dieser Mann in den letzten Wochen und Monaten und immer häufiger von Hustenanfällen geschüttelt. Anfangs kam noch manchmal eine Frau mit ihrem Fahrrad gefahren und redete auf ihn ein. Dann schlich er schwankend und hustend langsam hinter ihr her, während sie voran das Fahrrad schob.
Einmal, da war er so betrunken, dass er sich an unserem Gartenzaun festhalten musste. Dabei blieb er mit seiner alten Jacke an einer Zaunlattenspitze hängen. Er konnte weder vorwärts- noch zurück, bis wir ihn zu zweit befreiten. Seine zerschlissene Jacke riss dabei noch tiefer ein.
Am nächsten Tag erzählte er mir seine Geschichte: Früher einmal sei er Koch gewesen. Dann wurde er arbeitslos und fing zu trinken an.
Seit diesem Tag sah ich den armen Mann nicht mehr. Wahrscheinlich ist er gestorben?
Armut, was ist Armut? Lassen wir einmal die Berechnungen der WHO oder der Caritas beiseite. Armut hat nach meiner Erfahrung andere Züge, als die meisten Soziologen sagen: Finanzielle Armut muss nicht unbedingt tatsächliche Armut sein!
Zeichnung von Katja Hellmich für mein Buch „Zwischenmenschen“.
Das hast Du ja toll geschrieben. Bei den Leuten im Wohnwagen dachte ich an Beduinen, die ich befragte. Einer sagte mir, daß er, wenn er die Wahl hätte, viel lieber als Nomade leben würde. Aber die Situation, in welche die Beduinen gedrängt wurden, seit ihnen der Zugang zum Land genommen wurde, ist widersprüchlich: sie können weder so leben wie früher, noch erhalten sie Unterstützung, um in der neuen, für sie ungewohnten seßhaften Art leben zu können. Wenn man ihnen schon das Land nimmt, hätte man sie doch besonders unterstützen müssen, auf andere Weise würdig leben zu können.
Bei dem ehemaligen Koch ist es mir erst recht einleuchtend, daß nicht nur er, sondern auch die Menschen, mit denen er zu tun hatte, an seinem Schicksal schuld sind.
Dialektisch denken hieße: es gibt sowohl den Aspekt des Individuellen, als auch den Aspekt der Gesellschaft. Maaz versucht, die Gesellschaft von den Motivationen der einzelnen Menschen und ihrer Lebensgeschichten her zu erklären.. Man kann aber auch umgekehrt den einzelnen Menschen von der Gesellschaft her erklären. Der gleiche Mensch mit einer bestimmten seelischen Gewordenheit wird sich in der damaligen DDR ganz anders entwickelt haben als in der damaligen BRD.
Ein anderes Beispiel, das ich erwäge ist das: manchmal denke ich, daß auch wir, die Verwandten, eine Mitschuld oder Mitverantwortung tragen, als XX sich das Leben nehmen wollte. Vielleicht hätten wir uns mehr um sie kümmern müssen, hätten ihr mehr Liebe und Bejahung zeigen sollen, haben sie vernachlässigt oder abgewertet. Ich habe gelesen, daß Martin Buber zutiefst erschreckt war, als ein junger Mann, der bei ihm zur Beratung gewesen war, sich das Leben nahm. Erst dann begann er, von der Mystik wegzugehen und die Beziehung und Begegnung zu entdecken weil der dachte, vielleicht hatte er sich nicht genug dem Mann zugewandt. Das setzt nicht die persönliche Verantwortung außer Kraft, aber die Beziehung, das Ich und Du, ist primär ein Zwischen den Personen, zwischen ich und du, wo letztlich die Verantwortung bei beiden liegt.
Ein Deteille bei Hermann Cohen ist, daß er sagt, daß der Gottesknecht nicht die Schuld, sondern das Leiden der Menschen auf sich nimmt. Das heißt also, nicht die Eigenverantwortung und Schuldfähigkeit der Menschen abzusprechen, aber trotzdem ein Stück weit für sie verantwortlich zu sein.
Zu dem Gedanken, daß die Armut nicht unmittelbar vom Geld abhängt, fällt mir ein Beispiel aus der Entwicklungspolitik ein. Ein indischer Autor nannte ein Bundesland in Indien, wo der rein materielle Reichtum nicht größer als in anderen sehr armen Ländern sei, wo die Menschen es aber geschafft haben, die Wirtschaft und die Gesellschaft so zu organisieren, daß es keine große Kluft zwischen Armut und Reichtum gibt, also das Wenige relativ gleichmäßig verteilt ist, so daß es dort kaum Armut gebe, und außerdem seien Schule, Bildung und Gesundheitsversorgung für alle frei zugänglich. Daher sei dort die Lebensqualität und auch Lebenserwartung eher ähnlich wie in den „reichen“ Ländern.
Viele Grüße, Daniel
Sehr interessante Beiträge und vor allem Beispiele!
Ich erinnere mich, von Systemen gelesen zu haben, die in weit „ärmeren“ Ländern (gemessen nach Standards der WHO u. a.) „Sozialpunkte“ vergeben wurden, d. h. wer einer alten Frau regelmäßig bei der Wäsche hilft erhält so und so viele Punkte und kann dafür von der Gemeinschaft etwas einfordern, vielleicht Nachhilfe für den Sohnemann. Obwohl diese Stadt, in der das „System“ vom Bürgermeister eingeführt wurde volkswirtschaftlich am unteren Limit lebte, ging es ihnen eigentlich sehr gut, weil jeder jedem geholfen hat und das auch gerne getan hat, weil er ja wusste, dass etwas von der Gemeinschaft zurückkommen würde. Zu meinem Bedauern muss ich allerdings hinzufügen, dass solcherlei Systeme in Deutschland wenig Anklang finden (hab’s schon versucht), wahrscheinlich geht’s uns dafür einfach nicht „schlecht genug“…