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Erinnerungen – Kapitel 3

Unser Jahr bei den Flöhauer Großeltern.

 

Es muss bereits im Juni 1945 gewesen sein, als wir in Flöhau ankamen. Ich kann mich aber auch hier nur an wenige Szenen und Bilder erinnern: An die blühenden Heckenrosen über den steilen Wegrändern. An die Kirschbäume, die schon rote Früchte bekamen. Die meisten Erlebnisse stammen jedoch wieder aus den Erzählungen der Erwachsenen oder aus der Zeit, als wir schon einige Monate in Flöhau lebten.

Elf Verwandte hatten die Großeltern bei sich aufgenommen. Drei Mütter, ein junges Ehepaar und sechs Kinder. Die anderen Männer waren noch in Kriegsgefangenschaft oder auf der Flucht. Wie mein Vater, der sich der Gefangennahme durch die Engländer entziehen konnte und zu Fuß aus dem Harz viele Kilometer weit nach Osten gewandert war. Hier lebten sie nun alle bei unseren Großeltern und hofften, dass die schrecklichen Ereignisse, die man aus dem Ort und aus der ganzen Gegend erfuhr, sich nicht bis auf den Berg hinauf ausbreiten würden. *

Mit den Kindern konnten wir gut spielen. In meiner Erinnerung rennen wir durch die ungemähten Blumenwiesen, drehen uns im Kreis, bis wir umfallen oder verstecken uns in den hochgewachsenen, rau belaubten Hopfenreihen. Immer angeführt von dem etwas älteren Cousin, der sich auf der Höhe schon gut auskannte. Abends durften wir manchmal die Eier aus den Hühnernestern holen. Schön vorsichtig, damit sie nicht zerbrechen! Denn Eier waren kostbar in dieser Zeit. Mehl hatten die Großeltern wohl noch aus der Mühle in einem besonderen Versteck aufbewahrt und Gemüse gab es aus dem Garten.

Es wäre sicher eine schöne Zeit bei den Großeltern gewesen, wenn wir nicht immer diese unausgesprochene Angst und Spannung, diese unterdrückten Tränen oder düster geflüsterten Andeutungen und Berichte der Erwachsenen wahrgenommen hätten.

Warum mein Vater und die anderen Erwachsenen tagsüber auf den bereits verlassenen Bauernhöfen in den Ställen und auf den Feldern schwer arbeiten mussten, wunderte uns kaum.  Wir fragten auch nicht, dass nur meine Großmutter und der greise Großvater tagsüber bei uns blieben. Wir Kinder konnten so vieles  nicht verstehen und einordnen aber wir wussten inzwischen, dass es Situationen gab, wo man einfach still sein musste und keine Fragen stellen durfte.

Nur zweimal hatten sich einzelne russische Soldaten zu uns auf den Berg verirrt. Sie wurden schnell wieder von meiner resoluten Großmutter ins Tal verwiesen. Einmal tauchten sogar fünf  junge deutsche Soldaten auf, Schüler noch, wie sie uns erzählten, die sich bei der Flucht vor den Russen völlig verirrt hatten. Meine Oma gab ihnen etwas zu essen und zeigte ihnen einen einigermaßen sicheren Weg durch den Wald. Einer der jungen Burschen schnitzte meinen Cousin zum Dank ein kleines Fahrtenmesser. Dann zogen sie weiter.

Als ich meine Mutter kürzlich fragte, was aus den fünf Jungen geworden ist, wurde sie schneeweiß im Gesicht und fing an zu weinen.

Gerne erinnere ich mich dagegen an diese zweite Großmutter. Fest und groß, wie sie uns aus dem Hauseingang entgegen kam und uns etwas Obst oder ein Brot mit Schweineschmalz, dass sie „Fettenbrot“ nannte, brachte. Sie hatte ernste graue Augen in ihrem ovalen Gesicht. Die grau mellierten Haare trug sie über der hohen Stirne glatt zurück und in einen Nackenknoten geflochten. Meistens sah man sie in gedeckter Kleidung oder in einer dunkelblauen Kittelschürze mit kleinen weißen Mustern. Auch jetzt noch herrschte sie über die Küche und den Garten. Sie konnte hervorragend kochen, was ich aber erst später bemerkte. Sie bewegte sich langsam und sprach in einem etwas wehleidig klingenden Saazer Akzent. Sehr ähnlich klang ihre Sprache wie die fränkische Sprache, da das ganze Egerland im Grunde ja meistens fränkisch gewesen war.

Die Großmutter nahm mich oft auf den Schoß, bürstete meine Haare und sang mit wenig Melodie in der Stimme einfache Kinderlieder. „Mit dem Pfeil und Bogen, über Berg und Tal, kommt der Schütz gezogen, früh im Morgenstrahl.“ Oder „Ri-ra-rutsch, wir fahren mit der Kutsch und wenn das große Wasser kommt, dann kehrn wir wieder um!“ Ihre Liebe zur Familie war bis ins hohe Alter grenzenlos und bezog sich auch auf die im Hause lebenden Tiere. Vor allem liebte sie ihren großen, schönen Schäferhund, Peter, der nur auf sie fixiert war. Auch ihn musste sie bei der Vertreibung zurück lassen! Wie viele Stunden mag das arme Tier in diesen Tagen wohl vergeblich vor dem Haus gesessen und auf sie gewartet haben?

An den Flöhauer Großvater kann ich mich nur wenig erinnern. Er war damals schon über 80 Jahre alt und von großer, hagerer Gestalt. Mit seinen tiefliegenden, dunklen Augen und dichten Brauen sah er etwas düster aus und ging schon gebeugt, obwohl er früher sehr sportlich gewesen sein soll. Er stammte aus einer alt eingesessenen „Familien-Dynastie“, die im Saazer Land immer eine Rolle gespielt hatte. Vor allem besaßen seine Eltern die große Mühle im Ort und einiges Land mit Wald und Hopfenfeldern.

Von Beruf war er Architekt gewesen, wie sein Vater und sein Großvater. Er hatte in Wien studiert und besaß ein Patent auf seine erste automatische Hopfendarre. Darum wurde er auch von den Leuten gerne „der Hopfenbaron“ genannt. Nach seinem Studium diente er als „freiwilliger Einjähriger“ in Innsbruck. Schon seit früher Jugend soll er auch ein begeisterter Jäger und Heger gewesen sein. Sonst aber war er wohl kein einfacher Mensch, ernst und nachtragend aber auch äußerst korrekt und couragiert. So hatte er als junger Offizier, als er bei einem Aufstand in Pilsen in eine aufgebrachte Menge von tschechischen Brauereiarbeitern schießen lassen sollte, diesen Befehl strikt verweigert und ist deswegen degradiert worden. *

Was diese Großeltern, die fast 20 Jahre im Alter auseinander lagen, außer ihren drei Kindern,  der Treue zum österreichischen Kaiserhaus und der Liebe zur Natur noch gemeinsam hatten, war eine „gepflegte böhmische Unordnung“, über die sie aber dennoch den Überblick besaßen. Erinnern kann ich mich selber nicht mehr an diese Unordnung aber sie mir gut vorstellen.

Erinnern kann ich mich aber noch an eine Szene bei der Vertreibung.

Als wir alle irgendwie fassungslos, erschöpft und traurig auf dem Hallanda Berg (in Richtung Podersam, wo das erste Sammellager war) ankamen und der Großvater nicht mehr weiter gehen konnte. Wie er uns, erschöpft auf einen Leiterwagen gelehnt, ermahnte, uns noch einmal diese herrliche Landschaft mit den dichten Wäldern, den Wiesen und Hopfenfeldern dort unten anzuschauen. „Kinder, dreht euch noch einmal um,“ sagte er, “das alles werdet ihr lange Zeit nicht mehr sehen!“

Damals war ich etwas über drei Jahre alt und sehe es vor mir, als ob es gestern gewesen wäre. Einige Wochen später ist mein Großvater in Thüringen gestorben.

Nach diesem 3. Teil möchte ich eine Pause einlegen. Ich verweise aber auf einen früheren Bericht über eine Reise nach Flöhau, kurz nach der Wende.

J. A.

Zwangsarbeit mussten nicht nur die Männer leisten. Und den jungen Frauen ging es oft noch schlimmer!

Bekanntmachung zur Vertreibung

* Dass wir in dem abgelegenen Haus „auf der Ziegelei“, wie man es nannte, von Plünderungen  verschont geblieben sind, verdankten wir vermutlich auch der tiefen Verehrung unseres alten Großvaters sogar bei den Tschechen, die ihn nicht verrieten.

P. S. Dieser unten stehende Link weist auf einen Ausstellungs-Katalog der „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“ und des Fördervereins der Stadt Saaz/ žatec e. V., sowie der Föderation der unabhängigen Schriftsteller Praha/Prag.

http://www.wildevertreibung.de/Inhalt-der-Ausstellung-/Podersam-Podbooany-/body_podersam-podbooany-.html

Dazu passt auch noch ein kurzer  Bericht meiner ehemaligen Schulfreundin Heidi Koziol, den ich mit ihrer Erlaubnis hier noch anfügen möchte

Das Schicksal unserer Mütter ähnelt sich im Bezug auf die Nachkriegszeiten. Meine Mutter musste vor den tschechischen „Siegern“ Angst haben, deine vor den russischen – und ausgewiesen wurden wir auch in ein elendes Kaff in Thüringen. Seit dieser Zeit konnte meine Mutter nichts Essbares mehr wegwerfen, weil wir damals so gehungert haben. Sie ist dann zu fuss über die grüne Grenze mit uns Kindern und meiner Oma – meinen Opa hatten die Tschechen 1945 ermordet. Sie traf dann in Gauting unseren Vater wieder, der im damaligen Sanatorium die Zahnstation geleitet hat. Leider starb er schon 1953. Da hatte er aber schon unser Siedlerhaus erworben. Als er starb stand meine Mutti mit 2 Kindern und den Schulden allein da. Was diese Generation geleistet hat, ist schon enorm….Was haben wir doch dagegen für ein schönes Leben! Zit Ende